Sonntag, 3. Mai 2015

Lovisa – Das Vermächtnis der Lil`Lu: Der Riss im Universum von Marita Sydow Hamann



  
Kurzbeschreibung:

Romantasy
Lovisa ist 17, selbstsicher, sarkastisch und schreibt Geschichten, die ihr in Tagträumen einfach zufliegen.
Doch es nagen Zweifel an ihr, als sie erfährt, dass ihre Tagträume eigentlich Visionen sind – Visionen, die sie zu ihrer leiblichen Mutter in die Psychiatrie führen.
Lovisa fühlt sich zunehmend verfolgt. Wer ist der junge Mann aus ihrer Vision, der ihr das Gefühl eines leidenschaftlichen Kusses auf den Lippen hinterlässt? Ozeanblaue Augen verfolgen sie, ihr Weltbild wird erschüttert, und die Realität ist viel unglaublicher, als sie es sich je erträumt hätte …

Ab 14 Jahre

Band 1 von 2 Lovisa-Büchern.
Die Reihe "Das Vermächtnis der Lil`Lu" wird insgesamt 5 Bände umfassen.
Erhältlich bei Amazon als Ebook oder Taschenbuch


Leseprobe:




Ein heller Blitz.
Es entstand aus dem Nichts und wurde mit den Jahren größer. Ein Jahr – solch kleine Einheit. Was ist schon ein Jahr in der Ewigkeit der Universen?
Es bestand aus reiner Energie – körperlos, strahlend, leuchtend existierte Es im Übergang von einem Universum zum nächsten.
Mit den Jahren entwickelte Es das Bewusstsein, zu sein.
»Ich bin hier, also existiere ich.«
Solche Gedanken beschäftigten Es, während Es an Stärke gewann. Nach weiteren Jahren erkannte Es, es war nicht allein. Es gab mehrere von ihnen – männliche und weibliche. Es war ein Er!
Er konnte die Gedanken der anderen hören! Doch, als er begann, sie zu verstehen, erschrak er so sehr, dass seine Energie sich als roter Blitz am Rande seines Universums entlud: Überall herrschte Panik! Seine Art wurde vernichtet!
Er konnte ihre Schreie hören, kurz bevor sie für immer verstummten. Schreie, hervorgerufen durch entsetzliche Qualen, Schreie, die von Existenzangst und Verzweiflung erzählten. Schreie, die er nie vergessen würde …
Und in seiner Verzweiflung begann er, weiterzuwachsen. Nicht wie zuvor, als er lediglich erwachsen wurde – nein, er wuchs nun, um stark zu werden. So stark, dass er sich vielleicht würde wehren können. Vielleicht ... Wehren! Gegen einen unsichtbaren Gegner, der die Existenz seiner Art bedrohte ... Vernichtete ... Jagte. Und so wuchs er. Mit all seiner Kraft. Von nur einem Gedanken getrieben: überleben!

Ulrika legte den Stift weg. Ein Schauer überlief ihren Körper. Sie starrte auf das Geschriebene. Hörte die Schreie des Universums. Fühlte die Panik, als wäre es ihre eigene. Lichter überfluteten ihr Gehirn, tanzten immer schneller. Verzerrten den Raum um sie herum. Versuchten, sie mit sich fortzuziehen.
»Nein! Wehre dich! Lass es nicht geschehen!«
Schritte auf der Auffahrt. Kurze Ruhe. Es klopfte. Ulrikas Herz machte einen Sprung. Sie versuchte, die Wahrheit zu fassen. In der Realität zu bleiben. Sie fasste sich an ihren schwangeren Bauch. Fühlte das Leben darin. Hielt sich daran fest. Zog sich mit aller Kraft zurück in die Realität. Ihr Blick wurde wieder klarer. Sie sah das Geschriebene vor sich liegen.
Er!
Es klopfte wieder. Dieses Mal energischer. Härter. Fordernd. Befehlend!
Sie kommen!
Ulrika ergriff das Blatt Papier, sprang vom Stuhl auf und fiel wenige Schritte weiter auf die Knie. Alte Dielen. Eine war lose. Ihr Versteck!
Ulrika presste das Blatt zu den anderen. Hörte, wie die Haustür aufbrach.

Sie lag auf dem Rücken. Bilder, Lichter zuckten. Hatte sie es geschafft?
Starke Arme erfassten sie. Hoben sie hoch. Jemand sprach Worte, die nicht zu ihr durchdrangen. Ein Mann.
Das Papier! Hatte sie es geschafft? War es sicher?
Ulrika wand sich in den Armen des Mannes. Er hielt sie fest, doch sie vergewisserte sich noch einmal. Nichts deutete darauf hin, dass es eine lose Diele gab. Sie hatte es getan. Konnte sich nicht erinnern. Doch das Versteck würde ihr Geheimnis bleiben. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als der Mann sie ins Freie führte.



1. Lovisa

Ich stand bei ICA – einer schwedischen Lebensmittelkette – an einem Süßigkeitenstand und konnte mich nicht entscheiden. Das Schild sagte eindeutig drei für zehn Kronen, aber es gab fünf Sorten zur Auswahl.
Da werden einem aber auch schwierige Entscheidungen abverlangt! Gemein.
Ich wippte vor und zurück, starrte auf das Sortiment und auf die bereits gewählten Riegel in meiner Hand.
Mein Blick verschwamm. Alles um mich herum wurde auf einmal undeutlich. Die Farben der Verpackungen begannen zu verwischen, lustige Muster bildeten sich, der Raum vor mir fing an, sich unnatürlich zu dehnen. Es kribbelte in meinen Händen. Die Muster verwandelten sich in beängstigende Gebilde. Ich zog scharf die Luft ein, blinzelte erschrocken die verzerrten Bilder fort und starrte ins Leere.
Was war denn das? Geträumt? Oder ...
Ein elektrisierender Impuls eilte durch meinen Körper, so einer, den man siedend heiß spürt, wenn es einen eiskalt erwischt. Hm, siedend heiß und eiskalt. Nettes Wortspiel. Ich grinste, schaute mich verlegen um – niemand sah mich an – und widmete mich dann wieder der Auswahl an süßen Leckereien. Ich zitterte leicht. Ich schob das Gefühl von Unzulänglichkeit, das sich auf einmal breitgemacht hatte, energisch zur Seite.
Es war nur ein Tagtraum, schimpfte ich mich und griff aufs Geratewohl nach noch einem Schokoriegel. Entschlossen drehte ich mich zu den Kassen und suchte mir die am wenigsten bevölkerte aus. Das leichte Kribbeln blieb in meinen Händen. Ich quetschte die Riegel, sodass ich es knirschen hörte und seufzte.
Na toll. Jetzt ist der Keks im Riegel zerbröselt.
Den Riegel kann man sowieso kaum essen, ohne zum Krümelmonster zu werden. Der Anflug von Ärger vertrieb zum Glück die unwillkommenen Gedanken, die mich seit diesem überraschenden Farbspielerlebnis irritierten. Wenigstens etwas!
Erleichtert schaute ich mich um.
Ich war in einem typischen ICA Maxi-Laden mit einer unglaublichen Artikelvielfalt, Pfannen, Klamotten, Gartenzubehör – zum Glück verkauften die auch immer noch Lebensmittel. Wobei es mich wunderte, dass dort für so einfache Dinge wie Brot auch noch Platz war. Um ehrlich zu sein, ging ich lieber bei City Gross einkaufen, dort war es geräumiger, und übersichtlicher war es auch.
Bei ICA Maxi brauchte man Kondition. Ich war nicht die Einzige, die Probleme hatte, dort auf Anhieb etwas zu finden. Ob das Taktik war? Je mehr der Kunde rumläuft, desto hungriger wird er? Wie zur Bestätigung knurrte mein Magen.
Ich blickte auf meine Beute. Was hatte ich eigentlich als Letztes gegriffen? Oh, wunderbar ... Ein Geisha, gerade den mochte ich aus der Fünferauswahl am wenigsten. Ich wollte losgehen, um den Riegel auszutauschen, als ich mitten in der Bewegung anhielt. Hinter mir ringelte sich die Warteschlange bis weit in eine Regalreihe. An den anderen Kassen das gleiche Bild. Ich seufzte – diesmal laut hörbar – und fügte mich dem Schicksal. Also gut, dann eben ein Geisha. Ich würde es überleben.
Langsam rückte die Schlange vorwärts. Als ich unter ein Reklameschild trat, tropfte mir irgendetwas auf den Kopf. Ich strich mir hastig über die Haare und schaute nach oben. Da war nichts. Zumindest nichts Sichtbares. Meine Finger tasteten meine Locken ab. Aber ich konnte nichts Nasses ausmachen. Ich schaute nochmal nach oben – dann trat ich vorsichtshalber etwas zur Seite. Wer weiß, dachte ich, sicher ist sicher.
Diese Bilder ... Der verzerrte Raum …
Ich atmete tief durch und fixierte den Zeitschriftenständer, der direkt vor der Kasse auf die Kunden wartete. Prinzessin Madeleine lachte mir von einer Titelseite entgegen. »Alles rund um Madeleines großes Babyglück«, war die Schlagzeile. Hinter ihr lachte Kronprinzessin Victoria in die Kamera. Sie war offenbar auf dem Weg zu einer Hochzeit. Es war seltsam, sie auf einem Foto ohne Prinzessin Estelle im Arm zu sehen. Nun ja, jetzt war wohl Madeleine dran. Hier wurde man vom Königshaus verfolgt, wohin man auch sah.
Ich konzentrierte mich auf die Überschriften. Las sie noch einmal und stellte verärgert fest, dass ich immer noch nicht wusste, was dort stand. Mein Unterbewusstsein drängelte sich faszinierend penetrant in den Vordergrund: verzerrte Bilder, ein Raum, der sich dehnte …
Ich quetschte wieder meinen Riegel und las zum dritten Mal: »Nachdem Madde ihre Schwangerschaft bekannt gab: Carl-Philip und Sofia in freudiger Erwartung?« Nicht zu fassen! Nur, weil die Schwestern jetzt anfingen, sich zu reproduzieren, musste er es auch? Hatten die nichts anderes zu berichten?
Mein Blick huschte weiter: »Mitten im Babyboom. Der König will die Krone an Victoria abgeben.«
Ich stutzte, dann grinste ich breit. Ich brauchte nicht einmal den Artikel aufzuschlagen, um zu wissen, dass das garantiert nur ein Köder für die Leser war. Als junge Mutter hatte Victoria sicher anderes zu tun, als gerade jetzt das Amt zu übernehmen! Immerhin repräsentierte die Kronprinzessin auch jetzt schon unser Land. Jeder wusste, dass sie einmal Königin werden würde. Wozu also die Eile?
Ich musterte die Abkömmlinge von Königin Silvia kritisch: attraktive Repräsentanten. Vor allem Madeleine. Obwohl ich fand, dass mir die Gesichter der Königsfamilie viel zu häufig entgegenlächelten, gehörte ich doch zu jenen Bürgern, die das Königshaus als eine Bereicherung ansahen und nicht als ein Relikt vergangener Zeiten.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel die Unterhaltung des Königshauses tatsächlich kostete. Aber andere Staatsrepräsentanten kosteten ebenfalls. So ein Königshaus brachte zumindest auch touristisch gesehen Geld ins Land. Ich fand, das sollte man nicht vergessen. Gegenüber gewählten Staatspräsidenten hatten sie auch den großen Vorteil, lange da zu sein.
Frage jemanden in der Welt, wer Schweden oder Norwegen nach außen hin vertritt, und sie werden sicher nicht Carl Bildt sagen oder Börge Brende. Die kannte doch kein Mensch! Victoria, Madeleine oder Håkon mit Mette-Marit – Fotos von ihnen fand man auch auf Titelblättern in anderen Ländern. Man kannte sie eben. Mal ehrlich: So eine Victoria war doch wesentlich hübscher anzusehen als beispielsweise ein Herr … Ja, wer war denn eigentlich Deutschlands Repräsentant? Ich runzelte die Stirn und überlegte intensiv. Der Einzige, der mir einfiel, war Weizsäcker, und das war wohl ewig her …
Mitten in meiner Feststellung, gerade bewiesen zu haben, dass meine Theorie von Königshäusern als Bereicherung eines Landes stimmte, bohrte sich mein Name in mein Ohr.
»Isa! Lovisa!«, rief jemand so laut, dass sich die lange Warteschlange komplett umdrehte, um der Quelle des Rufs empört, aber auch neugierig auf den Grund zu gehen – Menschen können laut einer anderen Theorie von mir gar nicht nicht neugierig sein.
»Isa!«
Meine Freundin Amanda drängelte sich von rechts durch die Nachbarschlange und erntete verärgerte, aber weitaus mehr bewundernde Blicke. Sie gehörte zu den gut aussehenden Mädchen dieser Welt: lange blonde Haare, groß, schlank – und zwar modellschlank, also fast ohne Busen und mit Hosengröße 34 – und mit den funkelblausten Augen, die ich jemals gesehen hatte.
Offenbar fiel dies auch einem in zerrissener Jogginghose gekleideten Mann mit fettigen Haaren auf.
»Hey, Blauäuglein! Engel … vom Himmel gefallen?«
Gerade dieser abgegriffene Spruch! Ich grinste breit.
Amanda senkte für eine Sekunde die Lider mit den langen geschwungenen Wimpern, dann warf sie dem Kerl einen vernichtenden Blick zu. Worte waren da nicht nötig. Ich wunderte mich, dass der Typ nicht auf der Stelle in Flammen aufging, anstatt nur rot anzulaufen und blöd zu grinsen. Allerdings erstaunte mich noch mehr, dass Amanda ihn nicht verbal zur Schnecke machte.
Ich ließ meinen Blick instinktiv zwischen all den Kunden hin- und herschweifen, dann kam der Grund ihrer Zurückhaltung auch schon auf uns zugeschlendert: Filip, Amandas neuer Freund, im Kielwasser die restliche Clique. Noch mehr verärgerte Blicke – nur Amanda wurde weiterhin wohlwollend angestarrt –, als sich die Gruppe Jugendlicher zu mir in die Schlange quetschte. Emilie, sensibel und herzensgut, sah sich etwas gequält um. Ich nahm es gelassen und übersah die Entrüstung absichtlich.
Simon lachte mir entgegen, ein süßer Junge mit haselnussbraunen Augen.
»Ein Geisha? Den magst du doch gar nicht«, begrüßte er mich. Ich blickte auf den Riegel und runzelte die Stirn.
»Oh, könntest du vielleicht …« Weiter kam ich nicht.
»Na klar!« Simon entriss mir den Riegel förmlich und entschwand im Gedränge.
Amanda lachte. »Er wird nicht lockerlassen, das weißt du doch, Isa? Schnapp ihn dir, bevor es jemand anderes tut!«
Sie wandte sich an Filip, ohne meine Antwort abzuwarten, und zog ihn verführerisch an sich. Ich beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie Filip sich gehorsam zu ihr herunterbeugte und sie auf den Mund küsste. Dann verschwand seine Zunge in ihrem Rachen.
»Pass auf, dass sie die nicht verschluckt«, brummte ich sarkastisch.
Josefin kicherte, Emilie verdrehte die Augen. Victor schnappte sich Josefin und schob ihr ebenfalls die Zunge in den Hals, woraufhin sie ihn empört von sich stieß.
»Etwas sanfter, wenn ich bitten darf!«
Josefin wischte sich demonstrativ den nicht vorhandenen Sabber von den Lippen. Victor schaute höchst zufrieden mit sich selbst und der Welt. Sein Kumpel Marcus lachte über Emilies eindeutig genervtes Gesicht.
Amanda gluckste fröhlich und schob Filip zur Seite. Die Vorstellung war beendet.
»Du bist dran.«
Amanda zeigte auf die Kasse. Ich sah mich nach Simon um. Konnte er sich etwa auch nicht entscheiden? Hoffentlich brachte er einen neuen Kex, der andere war mittlerweile in seine Bestandteile zerfallen. Ich wollte gerade zahlen, da reichte mir Simon tatsächlich einen Kex über die Schulter. Er kannte mich gut.
»Hier«, sagte er sanft an mein Ohr. Sein Atem berührte meine Nackenhaare. Vertraulich. Durchaus berechnend. Leider tat sich bei mir gar nichts. Eigentlich war es mir unangenehm. Ich kannte Simon seit dem Kindergarten. Er war schon immer mein bester Freund oder war es zumindest so lange gewesen, bis er sich entschied, unsere Freundschaft für Verliebtheit aufs Spiel zu setzen.
Wut stieg in mir auf, aber ich riss mich zusammen, um nicht vor ihm zurückzuweichen.
»Vielen Dank, Simon.«
Dann zahlte ich hastig, um einen guten Grund zu haben, seinem warmen Atem zu entkommen. Es war nicht fair. Simon hatte sich verliebt. Aber ich … Ich wusste auch nicht. Er war süß, nett, liebenswürdig und kannte mich gut – besser als Amanda. Trotzdem würde er für mich immer nur ein Freund bleiben – und er war außerdem der Exfreund von Amanda. Ich war keine zweite Wahl! Ich wollte nichts, was Amanda abgelegt hatte, nicht einmal Simon.
Amanda hakte sich bei mir ein und überließ Filip das Zahlen.
»Wir gehen zu Roddy‘s. Kommst du mit auf einen Kaffee?«
Ich dachte an den Aufsatz, der bis Montag fertig sein sollte, an den Abwasch – meine Mutter arbeitete heute spät, also war ich damit dran – und an das leere Haus. Kaffee bei Roddy‘s. Warum eigentlich nicht?
Amanda schien die Antwort Ja vorauszusetzen. Schon dirigierte sie meinen Arm geschickt Richtung Ljungby Zentrum. Ich wehrte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Als Simon sich im Laufschritt näherte, setzte ich ein fröhliches Lächeln auf, klemmte Amandas Arm etwas fester und schritt scheinbar unbeschwert vor das nächstbeste Auto. Reifen quietschen.
Amanda schrie: »Hey, du Idiot! Hier ist ein Zebrastreifen!«
Dann ließ sie sich lachend von mir weiterziehen. Solche Aktionen waren ganz nach ihrem Geschmack.
Die Konditorei und Bäckerei Roddy‘s lag nur zwei Straßen weiter. Der Duft von Gebäck schlug mir bereits vor der Tür entgegen. Zwei große rote Herzreklamen empfingen uns am Eingang. Als die Gruppe endlich zu uns aufgeschlossen hatte, hechte Simon an mir vorbei, um mir die Tür aufzuhalten. Amanda stieß mir vielsagend in die Seite, ich verdrehte die Augen.
Wenig später fläzte Filip sich in die bequem gepolsterte Bank im hinteren Teil des Cafés. Er zog Amanda in die Arme. Fast besitzergreifend.
Ich setzte mich absichtlich auf einen der Stühle und tat so, als würde ich Simons einladenden Blick nicht sehen. Er hatte hoffnungsvoll neben Filip auf der Bank Platz genommen, und schaute nun leicht enttäuscht. Emilie warf mir einen verstehenden Blick zu. Filip und Amanda verknoteten die Hände und küssten sich ausgiebig. Simon sah mich sehnsüchtig an. Wir anderen genossen Kaffee und Kuchen.
Ich ließ zwei Stückchen Zucker in die schwarze Brühe fallen und goss mir Milch bis zum Rand. Auf meinem Teller lag ein Schokoball mit Kokosstreuseln bereit. Diese Chokladbollar liebte ich abgöttisch.
»Hast du weitergeschrieben?«, fragte Simon.
Er nippte an seinem Cappuccino und sah mich auffordernd an. Alle Augen – bis auf Amandas – richteten sich auf mich. Sogar Filip linste durch den Haarschleier seiner Angebeteten. Ich verschluckte mich am Kaffee und verbrannte mir die Zunge. Verflucht! Sie deuteten mein verzerrtes Gesicht als Verneinung. Um das zu unterstreichen, schüttelte ich auch noch den Kopf. Immerhin hatte ich tatsächlich nicht weitergeschrieben.
»Schade«, stieß Emilie ehrlich hervor. »Ich hoffe, dir fällt bald die Fortsetzung ein. Es ist wirklich frustrierend, wenn man das Buch nicht einfach kaufen kann!«
»Das ist fast wie bei diesen Fernsehserien«, stimmte Josefin zu und zog eine Grimasse, um ihren Worten Gewicht zu verleihen. »An der spannendsten Stelle hören sie auf. Fortsetzung folgt. In einer Woche!«
»Dir fällt bestimmt bald etwas ein«, tröstete Simon mich.
Überflüssigerweise. Denn mir war ja schon längst etwas eingefallen. Wobei – um genau zu sein, war das nicht ganz zutreffend: Mir fiel eigentlich nie etwas ein. Das Ganze war um einiges einfacher – zumindest für mich.
Ich schrieb in meiner Freizeit Geschichten. Ich war sogar fast so etwas wie berühmt an meiner Schule, für meinen außergewöhnlich guten Schreibstil und meine packende Erzählweise. Im Zeitalter von Computer und Film durchaus erwähnenswert. Doch, was niemand wusste, war, dass ich mir die Geschichten gar nicht ausdachte, sondern dass sie mir in Träumen und Tagträumen förmlich erschienen.
Bis vor Kurzem hatte ich gedacht, dass das jedem so ginge. Träume, die zum Greifen echt wirkten, waren für mich normal, seit ich denken konnte. Vor einigen Wochen war mir allerdings durch Zufall bewusst geworden, dass meine Art, Ereignisse zu sehen, wohl doch nicht gang und gäbe war. Ganz im Gegenteil. Offenbar würden die meisten meine Erfahrungen eher als Visionen bezeichnen. Zumindest hatte Amanda es so ausgedrückt.
»Das sind Visionen, Isa«, hatte sie mit einem Anflug von Distanz in der Stimme gesagt. »Das würde ich an deiner Stelle für mich behalten. Nicht jeder ist da so tolerant wie ich. Manche könnten dich für … verrückt halten!«
Klar, dass sie mir riet, so etwas geheim zu halten. Alles, was von ihrer entzückenden Person ablenkte, verabscheute Amanda aus tiefstem Herzen. Dass meine Geschichten sogar bei den Jungs gut ankamen, das war ihr ein Dorn im Auge. Ich wusste das, trotzdem war Amanda meine beste Freundin. Und sie gab sich auch Mühe, ihre Eifersucht nicht zu zeigen. Ich kannte sie allerdings zu gut. Viel besser als sie mich.
Ich behielt meine Entdeckung, Visionen zu haben, also für mich. Nicht Amanda zuliebe. Nein, sie hatte erreicht, was sie unterbewusst bezweckt hatte: mir Angst zu machen! Allerdings nicht so, wie sie es gemeint hatte. Nicht die Angst davor, was andere über mich denken könnten. Nein, es ging um ein einziges Wort: verrückt. Ihre Anspielung nagte an meinem Inneren wie ein gefräßiges Geschwür. Verrückt. Irre.
Amanda hatte ja gar keine Vorstellung, wie sehr mich diese Worte trafen! Seit unserem Gespräch über Tagträume und Visionen hatte sich eine Unsicherheit in meiner Brust eingenistet, die offenbar vorhatte, dort permanent zu siedeln. Sehr beunruhigend.
Ich schluckte und befühlte meine verbrannte Zunge. Mein Appetit auf Schokobälle war wie weggeblasen. Mir war leicht übel.
»Ich weiß schon, wie es weitergeht«, sagte ich tapfer.
Amanda warf mir einen kritischen Blick zu.
»Ich habe das nächste Kapitel nur noch nicht geschrieben.«
Amanda schien erleichtert. Ich benahm mich normal, zumindest aus ihrer Sicht.
»Na, dann müssen wir wohl noch ein wenig auf die Fortsetzung warten«, sagte sie schulterzuckend und widmete sich endlich ihrem Kaffee und ihrem riesigen Stück Torte. Für sie war das Thema damit erledigt.
Die weitere Unterhaltung floss ungezwungen dahin: Sport, der Aufsatz für Montag und die Erörterung der Frage, bei wem wir uns am Wochenende zum typisch schwedischen Vorfest treffen könnten.
Das Vorfest war genau wie das Nachfest ein fester Bestandteil unserer Partykultur. Wir trafen uns bei irgendwem zu Hause und tankten schon einmal mächtig vor. In den Pubs war Alkohol extrem teuer, außerdem waren wir mit unseren siebzehn Jahren noch zu jung, um harte Sachen zu bekommen. Nun gut, Filip und Victor waren achtzehn, Marcus sogar neunzehn Jahre alt. Nach dem Vorfest ging‘s zum eigentlichen Ereignis des Abends: Kino, Disco, Konzert oder Ähnliches, je nachdem, was zufällig in Ljungby und Umgebung angeboten wurde. Da so gut wie alle Veranstaltungen gegen zwei Uhr nachts endeten, gab es für die Nimmersatten und Hartgesottenen das Nachfest, auf dem das Saufgelage vom Vorfest fortgeführt wurde. Das Ganze nannte sich dann schwedische Trinkkultur.
Als die Diskussion zu nichts führte, da weder Freitag noch Samstag bei einem von uns sturmfrei war, löste Filip unsere Kaffeerunde mit den Worten auf: »Ich hör mich mal um. Bei irgendwem wird immer gefeiert. Ich muss jetzt los, mein Bus geht in zehn Minuten.«
Wo er recht hatte, hatte er recht. Man konnte immer irgendwo zu einem Vorfest reinschneien. Mir war es allerdings lieber, ich kannte die Gastgeber, und zwar nicht nur vom Sehen.
Amanda und Filip schälten sich aus den schokobraunen Polstern.
»Bis morgen dann!« Filip hob zum Gruß die Hand, Amanda beugte sich zu meinem unangerührten Schokoball vor.
»Willst du den nicht mehr?«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Typisch Amanda. Sie konnte ohne Probleme drei Stückchen Torte vertilgen und dann immer noch einen Riegel Schokolade hinterherschieben. Mir war immer noch leicht übel. Außerdem schien meine Zungenspitze nicht genügend Platz in meinem Mund zu haben.
»Nimm ruhig«, sagte ich.
Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange, schnappte sich den Schokoball und verschwand Richtung Tür.
»Bis morgen!«, rief sie kauend über die Schulter und ließ sich von Filip in den Arm nehmen. Ich sah ihr nach. Wie war es nur möglich, dass jemand so viel Müll in sich hineinfutterte und trotzdem aussah wie eine Bohnenstange? Ich aß nicht einmal die Hälfte von dem, was Amanda täglich vertilgte. Trotzdem war ich im Vergleich zu ihr dick. Ich war natürlich nicht wirklich dick. Ich war nur der kurvige Typ mit Hüfte, nicht der knochige, schwindsüchtige. Im Vergleich zu Amanda waren sogar »Victoria Secret«-Models dick. Immerhin hatte Gisele Bündchen wenigstens Brüste.
»Weißt du, du kannst das auch haben«, deutete Simon meinen nachdenklichen Blick total falsch.
»Hä?«
Ich riss mich mit einem Ruck aus meinen nicht gerade freundschaftlichen Gedanken und nahm mir zum x-ten Mal vor, weniger sarkastisch, ironisch und was weiß ich noch alles zu sein.
»Na, diese glückliche Zweisamkeit«, raunte Simon und legte mir vieldeutig einen Arm um die Taille. Mist. Gefangen. Ich hatte einen Moment nicht aufgepasst, und nun konnte ich mich nicht einfach losreißen, ohne seine Gefühle zu verletzen. Ich wappnete mich und schenkte ihm ein Lächeln.
»Wieso?«, hörte ich mich dann allerdings sagen. »Willst du wieder mit Amanda zusammen sein, um mir und Filip freie Bahn zu verschaffen?«
Als Simons Gesichtszüge entgleisten, biss ich mir auf meine malträtierte Zunge. Mein Vorsatz hatte ja lange gehalten …
Du kannst das besser!, schimpfte ich mich selbst. Ich lachte Simon also an und stieß ihm in die Seite.
»Lass das mal schön sein, ich kann darauf verzichten, seine Zunge im Hals zu haben. Ich stehe mehr auf sanfte Küsse!«, korrigierte ich meine vorherige gemeine Attacke.
Simon strahlte mich glücklich an. Ich seufzte innerlich. Wo sollte das nur hinführen? Und wann ließ er endlich meine Taille los?
»Hier, deine Jacke, Isa«, grinste Marcus mich an. Die anderen hatten das Geplänkel natürlich mitbekommen. Oh, ein Rettungsring!
»Danke!«, sagte ich etwas zu herzlich, schnappte mir meine Jacke und wand mich nun mit gutem Grund aus Simons Armen: Ich musste mir die Jacke anziehen. Was für ein Glück, dass die T-Shirt-Zeit vorbei war!
Vor dem Café blies uns ein kühler Wind entgegen. Es war richtig frisch geworden. Der Herbst färbte die Blätter bunt und brachte feuchte Luft mit sich. Ich zog meine Jacke enger, verabschiedete mich und begann bereits zu gehen.
»Warte, Isa«, rief Simon.
Ich ging weiter.
»Soll ich dich begleiten?«
»Ein anderes Mal, Simon. Ich muss mich beeilen«, log ich und winkte ihm fröhlich zu, während ich auf dem Absatz kehrtmachte und über den Marktplatz lief. Ich verlangsamte das Tempo erst, als ich bei der Bank um die Ecke bog. Ich sah mich um. Er war mir nicht gefolgt. Mit schlechtem Gewissen ging ich die Straße hinauf. Mein Ziel: Café Storgatan 13.
Egal, wie viel Sorge mir meine Visionen bereiteten, ich musste die Bilder in meinem Kopf sortieren und zu Papier bringen. Im Café 13 – wie es kurz genannt wurde – würde mich keiner stören.
Es war nicht weit, nur ein paar Hundert Meter. Ich versuchte, nicht an Simon zu denken, versuchte, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, und atmete die kühle Luft tief in meine Lungen. Plötzlich durchlief mich ein Schauer.
Irgendjemand beobachtet mich!
Ich fuhr herum und suchte die Straße ab. Es war niemand zu sehen. Hatte ich mich getäuscht? Wie kam ich überhaupt auf die Idee, beobachtet zu werden?
»Das ist bestimmt dein schlechtes Gewissen«, murmelte ich für mich selbst. Ich ging weiter, doch das beunruhigende Gefühl blieb, saugte in meiner Magengegend und veranlasste mich dazu, mich noch mehrmals unsicher umzusehen, bevor ich endlich das Café 13 erreichte.
Wohlige Wärme empfing mich. Das Café war nicht so modern eingerichtet wie Roddy‘s, dafür war die Bedienung freundlich, und wesentlich billiger war es hier auch. Ich hatte keine Ahnung, warum gerade das Roddy‘s zum Treffpunkt aller Jugendlichen geworden war. Es war dort fast immer voll und wirklich teuer! Obwohl gerade Jugendliche bekanntlich nicht viel Geld übrig haben, traf man sich immer dort. Mir persönlich war das Café 13 lieber. Es ging ruhiger zu, war persönlicher. Ich kam oft hierher, um zu schreiben.
»Gibst du mir einen warmen Kakao?«
Die Bedienung lächelte und begrüßte mich. Hier kannte man mich. Ich ließ meinen Blick über das Sortiment gleiten. Mein Magen meldete sich mit einem hungrigen Knurren zurück.
»Und eine gebackene Kartoffel mit Thunfischsalat«, entschied ich spontan. Mein Appetit war eindeutig zurückgekehrt, und auf leeren Magen schrieb es sich nicht sonderlich gut.
»Ich bring es dir gleich. Setz dich ruhig. Schreibst du an deinem Buch weiter?«
Ich wiegte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Buch ist wohl etwas übertrieben«, relativierte ich ihre Erwartungen. »Es ist eine Erzählung, vielleicht eine Novelle … Hm …«
Sie lächelte.
»Ich lese deine Geschichten immer gern«, sagte sie freundlich und verschwand in der Küche.
Ich kramte eine Haarspange hervor, sammelte meine Locken und klemmte sie am Hinterkopf fest. Dann suchte ich mir ein Plätzchen am Fenster. Ich schaute gern hinaus, während meine Gedanken wanderten und aus Bildern eine Geschichte formten. Die aktuelle handelte von einer jungen Frau, die sich in den falschen Mann verliebt hatte. Sie war von ihm schwanger. Ein Dorn im Auge ihrer Familie – ein Skandal musste verhindert werden. Die Frau war einem mächtigen Mann versprochen, die Ehe schon seit ihrer Geburt geplant.
Ich nannte die Frau Svea. Meine Visionen lieferten Bilder, Gefühle, manchmal sogar Gerüche, doch Namen musste ich mir selbst ausdenken. Außerdem erschienen mir Gesichter nur schemenhaft verschwommen. Ich konnte sie nie wirklich sehen, beschrieb sie in meinen Geschichten also nur so, wie ich sie mir vorstellte.
Svea wurde entführt – ziemlich brutal. Dieser Teil gefiel den Jungs in der Schule ausgesprochen gut. Zuerst waren sie skeptisch – eine romantische Geschichte? Immerhin waren sie von mir Kurzgeschichten zum Thema Horror, Thriller und Science-Fiction gewohnt. Nun, sie würden nicht enttäuscht werden, denn meine neueste Vision gab der Romanzenstory eine ungeahnte Wendung.

Svea schwebte zwischen Ohnmacht und Bewusstsein. Sie spürte die kalte Liege unter ihrem Rücken. Ihre Arme und Beine waren mit Riemen festgebunden, sie war so gut wie nackt. Ihre Hose war ihr vom Leib gerissen worden, ihre Bluse hing in Fetzen um ihre Brüste. Sie zitterte am ganzen Körper – vor Kälte, vor Angst und vor Schmerzen. Ihr Arm war gebrochen. Es war passiert, als sie sich wie eine Raubkatze zur Wehr gesetzt hatte – vergebens. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Die Fesseln hielten den geschundenen Arm in einer unvorteilhaften Stellung.
Ein Wimmern kam über ihre Lippen. Dann ein Stöhnen. Svea versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, der Situation Herr zu werden.
Was machte sie hier? Was wollte dieser Kerl von ihr? Es war so still … War sie allein? Svea drehte vorsichtig den Kopf. Ein dumpfes Hämmern an der rechten Schläfe erinnerte sie an den Schlag, der sie in die Ohnmacht geschickt hatte. Sie blinzelte tapfer in die Dunkelheit. Ihre tränenden Augen erfassten eine Gestalt – sie war nicht allein!
Plötzlich erstrahlte der Raum in einem grellen Licht. Die Gestalt nahm Form an. Es war ein Mann. Er trug einen weißen Kittel und wusch sich gerade die Hände. Dann kam er auf Svea zu – das Gesicht hinter einem Mundschutz verborgen, die Augen blitzen sie hart an. Erbarmungslos.
»Wir dulden solche Frevel nicht!«, zischte er unbarmherzig. »Dieser Bastard wird sterben – und Ihr …«, er verzog das Gesicht, sodass Svea trotz Maske sah, dass er hämisch grinste.
»… Eure Hoheit«, sagte er sarkastisch. »Ihr werdet Eure Pflicht erfüllen! Nichts wird unserem Plan in die Quere kommen. Schon gar nicht solch ein dreckiger Nichtsnutz von einem Mann! Sein Samen hat Euch vergiftet. Ich werde den Dorn in Eurem Leib herausreißen und zermalmen, genau, wie ich das Leben dieses Nichtsnutzes zwischen meinen Fingern zerquetscht habe! Wollt Ihr ihn sehen?«
Ein irrer, fast fanatischer Ausdruck loderte in den Augen des Mannes auf.
Sveas Magen knotete sich zusammen. Tomas! Er war hier? Und was meinte der Kerl mit ‚das Leben zerquetschen‘?
Der Mann umrundete ihre Liege und war mit zwei Schritten bei einem Vorhang angekommen, den er in einer herrischen Bewegung zur Seite zerrte. Seine Augen beobachteten Svea lüstern, als sie zu verstehen versuchte – als ihr Blick endlich das Grauen erfasste!
In einer Lache aus Blut lag ein Körper, der bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Fleisch und Haut hingen in Fetzen von den Knochen, nur das Gesicht war unberührt: Leere Augen blickten ihr im Entsetzen erstarrt entgegen – Tomas!
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie bekam keine Luft, ihr ganzer Körper verkrampfte sich, sodass ihr gebrochener Arm brutal gedehnt wurde. Sveas Augen verdrehten sich in den Höhlen.
Die Stimme des Mannes drang durch das Grauen zu ihr hindurch: »Keine Angst, Prinzessin. Ihr werdet leben. Doch zuerst muss ich die Saat entfernen, die Euch besudelt hat …«
Es pochte in Sveas Schläfen, in ihrem Kopf, in ihrem ganzen Körper. Ihre Sinne drohten unter der Flut von Reizen zu ersticken – Tomas tot! Zerfetzt! Das Fleisch von den Knochen gerissen! Ihr Kind, ihr gemeinsames Kind … Sie musste es schützen! Um jeden Preis!
Dieser Gedanke krallte sich in ihr fest, grub sich mit scharfen Krallen in ihr Gehirn, schien ihre Gehirnmasse zu zerfressen, genau so, wie ihr Geliebter in Fetzen lag. Sveas Augen schnellten zurück, starrten in den Raum hinein, starrten durch den grotesk grinsenden Mann – war er ein Arzt? – hindurch, der mit seinem Chirurgenbesteck hantierte. Ihr Blick weitete sich, der Raum begann, sich zu dehnen, Farben wirbelten umher, jedes Detail, jedes Molekül rauschte in rasender Geschwindigkeit auf sie zu, ein greller Blitz betäubte ihr überlastetes Gehirn. Ein Luftzug – dann wurde es dunkel um sie herum.
Als Svea erwachte, lag sie einsam in einem Waldstück. Der Boden unter ihr war weich und feucht. Ein leichter Wind spielte mit ihren verklebten Haaren, eine Gänsehaut überzog ihren halb nackten Körper. Svea hatte keine Ahnung, wo sie war. Doch eines wusste sie mit seltsamer Gewissheit: Ihr Kind lebte! Tomas würde in dem Baby weiterleben …

Ich starrte auf den Text. Meine Hände zitterten. Der Raum weitete sich, Farben wirbelten umher …
Es war nur ein Tagtraum gewesen, den ich nun niedergeschrieben hatte, eine Vision, ein Detail aus einer Geschichte. Mehr nicht. Aber es hatte sich so echt angefühlt. Ich kannte es nicht anders, als dass sich meine Visionen echt anfühlten. Ich war es genau so gewohnt. Trotzdem hatte mich diese Erfahrung erschüttert, als ob ich eine neue Ebene von Tagträumen betreten hätte. Eine noch realistischere Ebene.
»Hier, dein Kakao und deine Backkartoffel, Isa.«
Ich zuckte zusammen und starrte die Bedienung entgeistert an.
»Oh, entschuldige«, lachte sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Ich rieb mir die Augen und winkte ab.
»Kein Problem. Ich war nur so in Gedanken«, murmelte ich und schob meinen Schreibblock zur Seite.
Die Frau stellte das Essen vor mir ab. »Wenn du noch Salat willst, weißt du ja, wo du den findest.«
Ich nickte. Sie verschwand hinter dem Tresen. Während ich in meiner Folienkartoffel herumstocherte, schaute ich mir das Geschriebene noch einmal an.
Gar nicht so übel, dachte ich. Wenn man es objektiv betrachtete – sofern ich als Autorin meinen Text objektiv betrachten konnte – dann war das wirklich gut gelungen. Den Jungs wird es wohl gefallen. Svea schien sich aus der Situation herausgebeamt zu haben, sie lebte und ihr Kind offenbar auch. Das war gut. Nur wusste sie noch nicht, wo sie sich befand.
Ich wusste das im Übrigen auch nicht. Hier hatte meine letzte Vision geendet. Ich war ebenso gespannt, wie es weitergehen würde, wie meine Klassenkameraden es jedes Mal waren. Ich wusste nie, wann ich den nächsten Tagtraum, die nächste Vision oder was auch immer haben würde. Nur, dass es kommen würde, das war sicher.
Ich widmete mich ernsthaft meiner Kartoffel mit dem Thunfischmayosalat. Nach dem Essen hing ich noch eine ganze Weile meinen Gedanken nach. Ich bestellte mir noch einen zweiten Kakao und naschte dazu den zerbröselten Kex. Ich schaute aus dem Fenster, sah die Menschen vorbeieilen oder spazieren, ruhte meine Augen und mein Gehirn aus. Geistesabwesend beobachtete ich einen jungen Mann, der vom gegenüberliegenden Park zum Café herübersah. Er war zu weit weg, als dass ich ihn hätte beschreiben können. Gerade, als mich das gruselige Gefühl packte, dass er genau mich durch das Fenster anstarrte, schlenderte er davon. Ich runzelte die Stirn, dachte an den Weg hierher, als ich das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden.
Jetzt bekommst du schon Verfolgungswahn, Lovisa! Reg dich ab, es war ein Zufall!
Ich grübelte noch eine Weile über die Angewohnheit nach, mit mir selbst zu reden. Dann packte ich meine Sachen, um endlich nach Hause zu gehen. Der Abwasch wartete. Der verschwand ganz sicher nicht einfach in einem Farbenspiel und einem sich dehnenden Raum. Schade eigentlich.



 Marita Sydow Hamann
Die Autorin schreibt Kinderbücher sowie Fantasy und Romantasy für Jung und Alt.
Ihre Interessen sind die nordische und die griechische Mythologie mit all ihren Wesen.
Speziell Trolle findet sie faszinierend. Aber auch Geister, Elfen, Drachen, Magier, mystische Begebenheiten, Romantik und Science Fiction Elemente könnt ihr bei der Autorin finden.
Sie ist nicht auf ein Element festgelegt und immer offen für neue Ideen. 


Facebook: https://www.facebook.com/pages/MaritaSydowHamannBooks/330770973629319
Autorenseite bei Amazon 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.